Inhaltsverzeichnis
Die Bestimmung des Begriffs "Tragikomödie"
Die neue Tragikomödie des 18. Jahrhunderts
Die Tragikomödie im Sturm und Drang
Tragikomik im Hofmeister
Die Bestimmung des Begriffs "Tragikomödie"
Historischer Hintergrund
Es ist bis zum heutigen Tage noch eine heikle Sache, eine Bestimmung des Begriffs "Tragikomödie" zu geben, ohne auf heftige Kritik zu stoßen. Guthke nennt die Tragikomödie eine "ungreifbare Gattung", [1] und in der Tat haben Literaturwissenschaftler und Kritiker immer Schwierigkeiten gehabt, eine befriedigende Definition, oder überhaupt eine Beschreibung des Begriffs zu liefern. Viele können sich darüber einigen, wenn es zu der Frage eines bestimmten Stückes kommt -- Kleists Amphitryon wird zum Beispiel beinahe universal als Tragikomödie betrachtet, und zwar obwohl er das Stück nicht so genannt hat. Auch werden viele Werke von Lenz als Tragikomödien angesehen, trotz ihrer Gattungsbezeichnung, wie z.B. der Hofmeister, den Lenz als "eine Komödie" bezeichnet.
Wenn so viele Kritiker sich im Einklang befinden, was nicht allzuoft passiert, muß es dann wohl möglich sein, die Merkmale der tragikomischen Gattung auszuarbeiten. Jedoch, wie Guthke es darstellt, sind bis jetzt alle derartigen Versuche entweder gescheitert oder erst gar nicht versucht worden. Guthke selbst will sich auch nicht auf eine greifbare Definition der Tragikomödie festlegen, zum Teil aus dem Grund, daß das Wort Tragikomödie selbst fragwürdig geworden ist, weil es eine wesentliche Veränderung erfahren hat:
| Tatsache ist jedoch, daß diese historischen Begriffe auf die Stücke, die in neuerer Zeit im englischen Sprachraum und anderswo als Tragikomödien designiert worden sind, nicht mehr passen, genauso wie das Adjektiv "tragikomisch" seit dem 18. Jahrhundert eine Bedeutung angenommen hat, die die Tragikomödie im älteren Wortverstand nicht im geringsten mehr beschreibt und auch keinerlei Beziehung zu ihr hat. [2] |
"Seit dem 18. Jahrhundert," schreibt Guthke. Das heißt also, im 18. Jahrhundert hat sich der Begriff Tragikomödie zu verändern angefangen, und zwar, wie sich herausstellt, hat das Wort "Tragikomödie" eine ganz neue Interpretation erhalten.
Tragikomödie in der Renaissance und im Barock
In der Zeit der Renaissance und später kamen zwar viele Dramen auf die deutsche Bühne, die man als Mischspiele oder tragische Komödien betrachten könnte. Auch bei den alten Griechen und Römern war diese Form keine ungewöhnliche gewesen, wie man am Beispiel von Euripides' Satyrspiel Kyklops oder an den vielen Tragikomödien Plautus' sehen kann. In der Tat war Plautus der erste, der das Wort Tragikomödie benutzte -- sogar erfand, fügt Guthke hinzu. Jedoch haben diese Mischdramen bei den europäischen Kritikern, besonders vor dem 16. Jahrhundert, wenig Anerkennung gefunden. Oft haben die zeitgenössischen Gelehrten es gar nicht nötig gehabt, diese Dramen selbst anzugreifen; stattdessen war die ganze Gattung der Tragikomödie zu dieser Zeit beinahe nicht existent, weil die Dramentheorie ihr damals kein Platz einräumte:
| Die Theorie und auch die Praxis der klassischen Dramatik grenzte die beiden Grundgattungen, Tragödie und Komödie, natürlich im allgemeinen scharf gegeneinander ab, so daß für ein Zwischengenre, das Elemente beider verbände, kein Platz zu sein schien. [3] |
Diese scharfe Abgrenzung der Gattungen ermöglichte die Erläuterung von vier Kriterien eines Dramas, die sich nach damaliger Lehre sich nicht überschneiden sollten. Der Stand der Personen sollte dem Genre angemessen sein, genau so wie es Aristoteles schon längst ausgelegt hatte. Auch sollte die Stilebene der Gattung nach eingehalten werden: eine erhabene Stilebene sei für eine Tragödie nötig, für eine Komödie aber undenkbar. Noch ein Unterschied zwischen den Genres kam im Stoff selbst, wobei eine Tragödie von ernsthafteren, wichtigen Begebenheiten handeln sollte, eine Komödie aber von leichten, lustigen, volkstümlichen Ereignissen. Entscheidend war auch der Ausgang des Dramas, wie es noch heute öfters behauptet wird: eine Komödie soll glücklich enden, eine Tragödie traurig.
Also war es bis zum 16. Jahrhundert im großen und ganzen unerwünscht, ein Drama als Tragikomödie zu betrachten, hauptsächlich deshalb, weil in der Dramentheorie keine solche Gattung Platz finden konnte. Das heißt aber nicht, daß solche Mischdramen nicht öffentlichen Erfolg finden konnten, oder sogar sehr häufig auftauchten: es kamen tatsächlich viele Dramen auf die Bühne, die diese strenge Abgrenzung gar nicht einhielten, die sich auch solche Namen wie "Mischspiel", "Trauer- und Lustspiel", oder "lustige Tragödie" gaben. In der Tat, schreibt Guthke, pflegte man "im wesentlichen ähnliche Stücke als Komödie, Tragödie, oder Tragikomödie zu betiteln." [4] Allmählich aber sehen wir zu dieser Zeit zum ersten Mal seit der Antike eine Anerkennung der Tragikomik unter den Dramentheoretikern. "Wie so oft, sanktionierte die Dramentheorie, was die Dramatiker geschaffen hatten." [5] Und so kam es, das man die Gattung Tragikomödie zu bestimmen versuchte, jedoch ohne viel Erfolg. Am wichtigsten schien für diese Bestimmung also das Kriterium des Dramenausgangs, was sich auch bis heute angehalten hat. Ein Drama, das in allen anderen Hinsichten als eine Tragödie zu bezeichnen wäre, wurde eine Tragikomödie genannt, wenn es glücklich endete. Andere Formen des Genres, wie zum Beispiel ein Drama mit typischen tragischen Personen, die in komische Handlungen geraten, wurden ignoriert; solche Dramen wurden entweder gar nicht geschrieben, oder es war den Theoretikern möglich, sie in das enge Schema des Ausgangskriteriums zu unterbringen.
Im Laufe des 17. Jahrhunderts sehen wir also eine ganze Menge solcher Mischspiele, die nicht nur öffentlich vorgeführt werden, die aber auch von den Kritikern besprochen und interpretiert werden. Die Tragikomödie erlebt zu dieser Zeit eine "ungeheuere Beliebtheit," was jedoch gleichzeitig zu ihrem Untergang führt. Weil die Zuschauer sich mit der neuen Form des beliebten Dramas schnell bekannt machten, haben sie weitaus weniger Interesse an dem Ausgang des Dramas gehabt: sie nahmen, findet Guthke, "die Mentalität der Leser der billigeren Kriminalromane einer späteren Zeit" [6] an. Das brachte mit der Zeit ein abnehmendes Interesse an der Form der Tragikomödie selbst, bis zu dem Punkt, daß im 18. Jahrhundert sehr wenig von dieser tragikomischen Struktur noch übrigblieb: "Jedenfalls hat das, was man seit dem 18. Jahrhundert Tragikomödie genannt hat, nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem, was die Tragikomödie zur Zeit ihrer größten Popularität in Westeuropa gewesen ist." [7]
Die neue Tragikomödie des 18. Jahrhunderts
Wie sah nun diese neue Form der Tragikomödie aus, und was haben die Dramenkritiker daraus gemacht? Wie wir gesehen haben, war es früher für diese Kategorisierung entscheidend gewesen, wie das Drama ausging. Was aber bei vielen Dramatikern im 18. Jahrhundert auftaucht, ist nicht einfach eine Tragödie mit einem lustigen Ende: stattdessen sehen wir zunehmend ein wahres Gemisch von den vier obenerwähnten Kriterien der Personen, des Stils, des Stoffes, und des Ausgangs. Diese neue Form scheint ihre Wurzel in einer viel älteren, volkstümlichen Form des Dramas zu haben, nämlich in der Schäferkomödie, wie sie zum Beispiel bei dem Italiener Guarini schon im 16. Jahrhundert erschienen war. In dieser Form, die von den zeitgenössichen Dramentheoretikern fast völlig übersehen wurde, kamen nicht die Extreme der beiden Hauptgattungen zusammen, wie es in den "tragischen Komödien" der Fall war, sondern "sieht Guarinis Tragikomödienbegriff nur die Harmonisierung der weniger extremen und daher leichter miteinander zu vereinbarenden Elemente der beiden Dramengattungen vor." [8] Diese Form fand also einen Mittelweg zwischen der Tragödie und der Komödie, ohne dabei die strenge Abgrenzung zwischen den beiden zu gefährden. Das heißt, die neue Tragikomödie, die allmählich unter den Theoretikern im 18. Jahrhundert Aufmerksamkeit erregte, war "keine Verbindung von Komödie und Tragödie, weder Tragödie noch Komödie [...], auch nicht beides, sondern ein dritter, intermediärer Dramentypus." [9]
Reaktionen der Dramenkritiker im 18. Jahrhundert: Gottsched und Lessing
Wie standen die Theoretiker des 18. Jahrhunderts zu diesem neuen Typus? Natürlich war es ein wichtiges Thema in der Aufklärung, wie ein Drama gestaltet sein soll, und auch insbesondere, wie eine Tragödie sich von einer Komödie unterscheidet. Deshalb war die Frage des neuen Tragikomödienbegriffs, der früher keine Bedeutung zugemessen wurde, von besonderer Wichtigkeit für die aufklärerische Theorie. Negativ war allerdings die übliche Ansicht der Tragikomödie, jedoch war "das 'Bastard'-Drama in ganz Westeuropa ein Hauptzankapfel in den klassizistischen Kontroversen um den guten Geschmack." [10]
Gottsched war einer der Hauptvertreter der Ansichten der Aufklärer zu dieser Frage: er folgte streng den aristotelischen Vorschriften, wie er sie wenigstens verstand, nach dem Muster des französischen Klassizismus. Das heißt, er glaubte an eine feste Beibehaltung der Regeln, die solche Mischformen wie die Tragikomödie untersagten. Die Komödie und die Tragödie sind völlig getrennte Gattungen, meint er, die sich nicht miteinander vermischen sollen. Seine ausführliche Regelpoetik verbietet also jegliche Unklarheit dieser Abgrenzung, genauso wie es seine antiken Vorgänger betrachteten. Er findet seinen Beweis dafür auch in dem Punkt, daß die Regeln, die er angibt, "in der Ratio und in der Natur des Menschen begründet seien." [11] Das heißt, daß diese klare Unterscheidung zwischen Lachen und Weinen, zwischen Ernsthaftem und Lustigem, schon im menschlichen Wesen selbst zu finden ist, und deshalb auch im Drama eingehalten werden muß. Obwohl andere Interpretationen dieses menschlichen Wesens und daher auch der Regelpoetik scheinbar möglich sind, ließen Gottsched und seine Anhänger nun sehr wenig Spielraum für andere Meinungen: "denkbaren Widerspruch brandmarkte er kurzerhand im voraus als Ignoranz." [12]
Jedoch faßten einige Kritiker den Mut, und kamen also auf neue Ebenen der Interpretation: ganz im Gegensatz zu Gottsched, haben sie nicht blind die aristotelischen Regeln zum Aufbau eines Dramas akzeptiert, sondern sie stellten genau diese Regeln auf der Probe und untersuchten sie: "sie hatten sich dem Forum des Verstandes zu stellen." [13] Lessing war einer der ersten, der eine neue, weitaus unabhängigere Auslegung der zeitgenössischen Dramentheorie zu schaffen versuchte. Er betont den Unterschied zwischen Komödie und Tragödie nicht darin, daß die Stilebene oder Personen anders sind, sondern in der Rolle der Charaktere für das Drama: in der Komödie, meint Lessing, sind die Charaktere das Hauptwerk, während in der Tragödie es die Situation selber ist, die zu Schrecken und Mitleid führt. Lessing fordert also nicht nur, daß das Schauspiel "ein Spiegel des menschlichen Lebens sein" soll, [14] sondern auch, daß, was wenigstens die Komödie angeht, ein Lustspiel "durch Lachen bessern" soll, um "die Gesunden in ihrer Gesundheit zu befestigen." [15] Diese starke Betonung der Wirkungsästhetik der dramatischen Gattungen führt also auch zu Lessings Beschreibung der Tragikomödie als ein gotisches Mischspiel. Wenn, wie er schreibt, es die Aufgabe des Dramas ist, die Zuschauer zu erbauen, und wenn in einer solchen Form wie Tragikomödie die Mittel dieses Erbauens (das heißt, die führende Rolle der Charaktere bzw. Situation) unklar werden, kann das Drama nicht mehr das leisten, wozu es bestimmt ist, und hat für Lessing keinen Sinn mehr.
Also sehen wir, daß es bis zur Aufklärung eine wesentlich negative Meinung der Haupttheoretiker zu der Frage der Tragikomödie gegeben hat, obwohl viele Mischspiele und Tragikomödien, die sich jedoch stark voneinander unterschieden, geschrieben wurden. Sogar eine handgreifliche Bestimmung einer Tragikomödie fehlte unter den Dramenkritikern, wahrscheinlich aus gerade dem Grund, daß die Mannigfaltigkeit der vorgeführten Mischspiele eine feste Einordnung oder Kategorisierung verbot: es war hier von Satyrspielen und bäuerlichen Mischspielen die Rede, da von einer Tragödie, die jedoch lustig ausging, und hier von einer neuen, mittleren Form des Dramas, die sich überhaupt nicht ausreichend bestimmen ließ. Das einzige, worin sich die Theoretiker sich einigen konnten, war in der Unerwünschtheit und Mißfälligkeit eines solchen Dramas, das man lieber vermeiden sollte.
Die Tragikomödie im Sturm und Drang
Die Dramentheorie von J. M. R. Lenz
Nach Lessing erscheinen aber allmählich andere Kritiker, die sich auch nicht von ihren Vorgängern einschüchtern ließen, und die selber neue Dramentheorien vorschlagen. Einer der wichtigsten für diese Periode des sogenannten Sturm und Drang war Jakob Michael Reinhold Lenz, dessen Anmerkungen übers Theater große Aufmerksamkeit erregten. Lenz setzt sich in dem Werk mit fast allem auseinander, was die Theoretiker vor ihm geschrieben hatten, und besonders mit dem, was die Gattungspoetik angeht. Er lehnt in einer bestimmten Hinsicht hier Lessing ab, der eine Wirkungsästhetik von der Kunst forderte, aber Lenz will auch nicht die feste Regelpoetik eines Gottscheds annehmen. Stattdessen findet er zwischen den dramatischen Gattungen herzlich wenig Unterschiede, und fühlt sich also frei, seine Interpretation auf den Charakter oder das Wesen des Dramas zu konzentrieren.
Unterscheidung aufgrund struktureller Schwerpunkte
Lenz legt schon eine Differenzierung zwischen der traditionellen Komödie und Tragödie aus, indem er schreibt: "Die Hauptempfindung in der Komödie ist immer die Begebenheit, die Hauptempfindung in der Tragödie ist die Person, die Schöpfer ihrer Begebenheiten." [16] Besonders sieht er diesen Unterschied ganz klar in den älteren deutschen Dramen, zum Beispiel in den Trauerspielen, wo der Held (die Hauptperson) am allerwichtigsten war:
| Und war sie tot, so schloß das Stück, es müßte denn noch ihr Tod Wirkungen veranlaßt haben, die auf die Person ein noch helleres Licht zurückwürfen. [...] Denn der Held allein ist der Schlüssel zu seinen Schicksalen. [17] |
Auf der anderen Seite behauptete Lenz, daß in der Komödie die Sache, die Situation entscheidend ist:
| Die Personen sind für die Handlungen da – für die artigen Erfolge, Wirkungen, Gegenwirkungen, ein Kreis herumgezogen, der sich um eine Hauptidee dreht – und es ist eine Komödie. Ja wahrlich, denn was soll sonst Komödie in der Welt sein? [18] |
Wie wir aber sehen, macht Lenz keine solche strenge Abgrenzung zwischen den dramatischen Gattungen, wie es Lessing, Gottsched, und andere machten. Für Lenz existiert das Drama schon eigenständig; wenn man es aber näher ansieht, kommt eine Differenzierung der Gattungen zum Vorschein. Diesen Unterschied bestimmt er in der relativen Wichtigkeit der Personen bzw. der Sache. Personen und Begebenheit existieren aber gleichzeitig, in einem und demselben Stück: "Eine Komödie ohne Personen interessiert nicht, eine Tragödie ohne Personen ist ein Widerspruch." [19]
Betrachtung nach soziologischen Gesichtspunkten
Von daher kommt Lenz also zu dem Punkt, den er in seiner Rezension des neuen Menoza macht, worin er eine wirklich revolutionäre Interpretation dieser Gattungsabgrenzung gibt. Jetzt kommt es nicht mehr darauf an, wie ein Schauspiel aufgebaut wird – im Vergleich zur Ständeklausel Aristoteles' oder zu Gottscheds' Beibehaltung der traditionellen Kriterien – und auch nicht auf die Wirkung des Stückes auf das Publikum (wie bei Lessing); tatsächlich ist sogar der Unterschied zwischen Lachen und Weinen nicht mehr so wichtig. Anstelle dieser Kriterien bringt Lenz ein neues ins Spiel: die gesellschaftliche Komposition bestimmt jetzt die Gattung, die der Dichter schreibt oder schreiben soll. Es gibt zwar noch die zwei Gattungen, sie sind aber auf ganz andere Weise zu unterscheiden:
| Ich nenne durchaus eine Komödie nicht eine Vorstellung, die bloß Lachen erregt, sondern eine Vorstellung, die für jedermann ist. Tragödie ist nur für den ernsthafteren Teil des Publikums, der Helden der Vorzeit in ihrem Licht anzusehen und ihren Wert auszumessen imstande ist. [20] |
Das heißt also, daß zum Beispiel die Griechen Komödien geschrieben haben, die dem Volk angemessen waren, und die deshalb voller Lachen und Lustigkeit waren, weil es das war, wozu das Volk damals neigte; "der Unterschied von Lachen und Weinen war nur eine Erfindung späterer Kunstrichter". [21] Die griechischen Tragödien waren andererseits für ein weitaus "ernsthafteres" oder gebildeteres Publikum geschrieben, das die großen Helden in ihren Geschichten und Schicksalen ansehen wollte. Wichtig ist auch dabei, daß das Volk die Wahl der Gattung dadurch bestimmt: "je näher [das Volk] dem Stande der Wildheit oder dem Hervorgehen aus demselbigen, desto mehr sich seine Komödien dem Komischen nähern mußten." [22]
Deshalb muß der Dichter sich die gesellschaftlichen Umstände gut ansehen, um ein Drama überhaupt angemessen zu schreiben. Und wie sieht Lenz in dieser Hinsicht seine zeitgenössische Gesellschaft? Sie ist "ein solcher Mischmasch von Kultur und Rohigkeit, Sittigkeit und Wildheit," behauptet er, daß die Dichter keine Wahl mehr haben, sie müssen "komisch und tragisch zugleich schreiben". [23] Das ist nun der entscheidende Punkt: es ist also für Lenz nicht mehr möglich, in der Praxis zwischen Komödie und Tragödie zu unterscheiden, und die einzige Gattung, die ihm übrig bleibt, ist die Tragikomödie.
Merkmale der Lenzschen Tragikomik
Wie soll aber diese Tragikomödie aussehen? Wir können nicht mehr mit den Regeln Aristoteles' rechnen, weil sie auf die eindeutige Abgrenzung zwischen den Gattungen abzielen; auch bei Lessings Programm der Wirkungsästhetik spielt diese Trennung eine entscheidende Rolle. Also müssen wir, wie es Lenz in den Anmerkungen beschreibt, beinahe wieder von vorne anfangen. Noch eins aber bleibt uns erhalten: "Daß das Schauspiel eine Nachahmung und folglich einen Dichter fodere, wird mir doch wohl nicht bestritten werden." [24] Die Poesie im allgemeinen, und ganz besonders das Schauspiel, bleibt noch, wie es von Aristoteles bis zu Lessing geblieben war, eine Nachahmung der Natur.
Was ist aber mit dieser "Natur" gemeint? Bei Gottsched und Lessing ist sie die sogenannte "schöne Natur" gewesen: nicht die unregelmäßige, freie, wilde Natur, vor der man möglicherweise Angst haben könnte, sondern die rational geordnete Natur der Aufklärer sollte in dem Schauspiel widergespiegelt werden. Bei Lenz ist das anders: er verlangt eine völlige Distanzierung von den aristotelischen Vorschriften, die er als einschränkend und unproduktiv betrachtet. Besonders das französische Muster, woran Gottsched sich so streng gehalten hat, findet Lenz unerträglich: er fängt seine Tirade gegen die klassizistischen Vorbilder mit der Bemerkung an: "Es gibt nirgend in der Welt so grübelnde Beobachter der drei Einheiten." [25] Deshalb müssen die deutschen Dichter sich nicht an französischen Vorbildern orientieren, und auch nicht an Aristoteles.
Woran soll man sich denn orientieren, fragt er, und seine Antwort darauf ist sehr klar: lieber sollen wir "die Natur Baumeisterin sein [...] lassen." [26] Die Franzosen haben das nicht gemacht, und deshalb sind sie gescheitert. Ihre Schauspiele sind alle gleich, weil sie keine richtige Widerspiegelung der Mannigfaltigkeit der Natur sind; sie erzählen immer die gleiche Geschichte, meint er. Lenz gibt nun zu, daß das Handwerk (d.h. das Schauspiel) zwar einfach ist, im Vergleich zu der Schöpfung Gottes, aber es ist eben die Aufgabe des Genies, die "Natur in allen ihren Wirkungen mannigfaltig" [27] widerzuspiegeln. Man soll sich also nicht fürchten, so viel Leben wie möglich in ein Drama einzufügen; es wird einem in der Tat helfen, wenn man sich nicht einschränkt.
Tragikomik im Hofmeister
Hauptempfindung: Sache oder Person?
Man kann vielleicht besser erkennen, was Lenz in seinen Schriften eigentlich verwirklichen wollte, wenn man eins seiner Schauspiele näher untersucht. In diesem Fall wäre es hilfreich, das Stück anzusehen, das er selber eine Komödie genannt hat, welches aber sicherlich nicht als rein komisches Drama betrachtet werden kann: Der Hofmeister. In diesem Stück sehen wir zwei völlig verschiedene Seiten, die zusammen den Aufbau des Dramas bestimmen. Die Merkmale des Dramas, die man als wahre komödienhafte Elemente bezeichnen kann, werden also der anderen Seite des Stückes, die hauptsächlich tragische Züge zeigt, gegenübergestellt; dadurch wird eine Art Synthese geschaffen.
Der volle Titel des Hofmeisters lautet nach Lenz "Der Hofmeister, oder Vorteile der Privaterziehung: eine Komödie." Daß das Stück einen doppelten Titel hat, ist nicht verwirrend, und kann sogar eine wichtige Rolle in der Interpretation des Stückes spielen. Warum aber "eine Komödie"? Was sind die komischen Elemente in diesem Stück? Zuerst soll man die Handlung des Stückes selber in Betracht ziehen: es wird hier klar gemacht, daß die entscheidende Betonung auf die Situation des Hofmeisters gelegt wird. Läuffer ist zwar ein handelnder, aktiver Mensch, aber er wird in seine Lage zu tief verwickelt, was dazu führt, daß er nicht mehr handeln kann. Er verliert nicht nur seine Stelle im Hause des Majors, sondern auch damit seine eigene Initiative. Er nimmt dann Zuflucht zu dem Schulmeister, durch dessen Einfluß er einigermaßen genesen kann. Dann aber, als er wieder mit seiner Lage konfrontiert wird, als er seine eigenen Gesichtszüge in denen des Kindes plötzlich erkennt, verliert er noch einmal wichtige Aspekte seiner Selbständigkeit: weil er die Taten bereut, die er selbst begangen hat, will er Teile dieses Selbsts loswerden, und deshalb kastriert er sich. Das ganze Drama ist also durch seine Lage, durch die Begebenheiten, motiviert: seine demütigende Lage am Anfang, wogegen er nichts tut oder tun kann, führt zu den Hauptereignissen im Stück, sogar auch zu seiner Lage am Ende des Stückes. Läuffer als Person ist, praktisch gesehen, nur die Achse, um die die Handlung sich dreht – wichtig ist die gesellschaftliche Lage, in der er sich befindet. Deshalb kann und soll man dieses Drama als Komödie bezeichnen, wie es Lenz beabsichtigt hat. Damit stimmt auch der zweite Titel des Dramas überein, "Die Vorteile der Privaterziehung," was ganz genau (jedoch ironisch) die gesellschaftliche Lage schildert.
Trotzdem kann man den Hofmeister auch anders betrachten, weil das Stück, rein vom Gefühl her, sich nicht leicht als pure Komödie einordnen läßt. Wenn wir Lenzens Bestimmung wieder anschauen, sehen wir, daß der Hauptgedanke in der Tragödie die Person ist. Und im Hofmeister haben wir doch eine Person im Zentrum des Dramas: Läuffer ist zwar keine starke Persönlichkeit, und läßt sich leicht von anderen Menschen und sogar von äußeren Ereignissen herumführen, aber er steht schließlich als Hauptperson dar, und wird sogar als Titel des ganzen Stückes hervorgehoben. Auch werden die Konflikte im Stück, die sowieso alle um ihn kreisen, durch Läuffer vorgestellt: der Konflikt der gesellschaftlichen Stände wird in ihm verkörpert; auch wird das Problem einer ledigen Mutter in enger Verbindung mit ihm präsentiert, sowie auch die anderen kleineren Konflikte, die überall im Drama auftauchen. Aus diesen Gründen könnte man wohl behaupten wollen, daß der Hofmeister in der Tat Elemente eines Trauerspiels hat.
Die soziale Dimension des Stückes
Man muß aber sehr vorsichtig mit solchen Termini umgehen, und eine genaue Untersuchung ist hier erforderlich. Wie Lenz in der Rezension des Neuen Menoza schreibt, ist eine Tragödie "nur für den ernsthafteren Teil des Publikums, der Helden der Vorzeit in ihrem Licht anzusehen und ihren Wert auszumessen imstande ist." [28] Es ist wohl klar, daß die Personen im Hofmeister keine "Helden der Vorzeit" sind, und auch, daß das Publikum nur eine mäßige Portion Intellekt braucht, Läuffer als Helden zu erkennen und auch zu verstehen. Das Stück ist tatsächlich "für das Volk" geschrieben, und von daher eine Komödie – wenigstens in einer bestimmten Hinsicht.
Lenz schreibt aber auch, daß es für die modernen deutschen Dichter nur möglich ist, "tragisch und komisch zugleich zu schreiben," [29] was Lenz dann doch im Hofmeister praktiziert. Das Stück ist vom Aufbau und von der Regelpoetik her eine Komödie, aber von der Ästhetik und vom gesellschaftlichen Hintergrund her keineswegs. Vor allem die Betonung der gesellschaftlichen Probleme kennzeichnet das Stück als eine sehr ernsthafte Behandlung, die sich mit ganz anderen Themen beschäftigt, als die eines herkömmlichen Lust- oder Trauerspiels. Diesen Konflikt zu begreifen, erfordert vom Publikum ein bestimmtes Maß an Verstand oder Intellekt, was das Stück wiederum aus der Klasse der einfachen Komödie bringt. Jedoch sind die tragischen Elemente gar nicht ausreichend vorhanden, um das Drama als richtige Tragödie zu klassifizieren: allein vom Ausgang des Dramas her wäre das eine Unwahrscheinlichkeit. In der Tat ist dann der Hofmeister eine völlig neue Art des Dramas, wie Guthke diese Erscheinung im Theater des 18. Jahrhunderts beschreibt: es ist "keine Verbindung von Komödie und Tragödie, weder Tragödie noch Komödie [...], auch nicht beides, sondern ein dritter, intermediärer Dramentypus." [30]
Sozialkritik oder eine neue Anschaulichkeit?
In diesem neuen Typus spielt, wie wir sehen, die Gesellschaft eine entscheidende Rolle. Warum stellt Lenz diese Konflikte in der Gesellschaft aber vor? Natürlich könnte man behaupten, daß er Aufmerksamkeit erregen wollte, indem er solche Probleme der bürgerlichen Gesellschaft wie die öffentliche Erziehung (daher also auch Standesunterschiede und finanzielle Differenzierungen) oder die uneheliche Mutterschaft auf die Bühne bringt, um dabei vielleicht eine Lösung der Konflikte auszuarbeiten. Wenn aber sein Ziel Sozialkritik gewesen wäre, warum hat er dem Drama einen solchen Ausgang gegeben, wo alle Probleme sich glatt auflösen, ohne dabei eine direkte Antwort auf den Konflikt überhaupt anzudeuten? Viel eher hat Lenz eingesehen, daß es zu den Konflikten, mit denen es hier zu tun hat, keine gute Lösung gibt, die auf der Bühne hätte vorgestellt werden können.
Statt der Absicht, hier eine Kritik an der zeitgenössischen Gesellschaft zu üben, in der Hoffnung, daß dann eine Lösung daraus stammen könnte, scheint es mir viel wahrscheinlicher, daß Lenzens Aufgreifung dieser sozialkritischen Themen eher dazu dient, seine Bemerkungen über das Wesen der Poesie selbst anschaulich zu machen. In den Anmerkungen übers Theater schreibt er, daß es die Aufgabe des Genies ist, die Natur nachzuahmen, eine Natur, die "in allen ihren Wirkungen mannigfaltig" ist. Das heißt, ein Schauspiel soll in der Tat versuchen, die Ganzheit der Natur darzustellen – selbstverständlich kann es nur ein Versuch bleiben, da die Natur sich in einem Drama nicht einschränken läßt. Jedoch enthält ein ideales Schauspiel nach Lenz eine "Reihe von Handlungen, die wie Donnerschläge auf einander folgen, eine die andere stützen und heben, [und] in ein großes Ganze zusammen fließen". [31] Das ist tatsächlich im Hofmeister der Fall. Genauso geht es mit den sozialkritischen Punkten, die er bespricht, die eigentlich ganz natürlich in ein Drama gehören, das sich mit der Ganzheit der Natur beschäftigt: es ist ja genau in der Darstellung dieser Konflikte, wo das Drama zum wahren "Gemälde der menschlichen Gesellschaft" [32] wird.
Ausgewählte Bibliographie:
Gottsched, Johann Christoph. Versuch einer critischen Dichtkunst. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 1977. |
Guthke, Karl S. Die moderne Tragikomödie: Theorie und Gestalt. Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen, 1968. |
Lessing, G.E. Hamburgische Dramaturgie, hrsg. von Klaus Berghahn, Philip Reclam jun. Verlag, Stuttgart. [Kopie in RR – das Datum war nicht vorhanden!] |
Lenz, J.M.R. Der Hofmeister oder Vorteile der Privaterziehung. Philip Reclam jun. Verlag, Stuttgart, 1984. |
Lenz, J.M.R. Die Rezension des neuen Menoza. In: Lenz, Gesammelte Schriften, hrsg. von Franz Blei (Verlag Georg Müller, 1909). Bd. II, S. 329 -334. |
Lenz, J.M.R. Anmerkungen übers Theater. In: Lenz, Werke und Briefe in drei Bänden, hrsg. von Sigrid Damm (Insel-Verlag, 1987). Bd. 2, S. 641-671. |
Zitate:
(1) | Karl S. Guthke, Die moderne Tragikomödie: Theorie und Gestalt (Göttingen, 1968), S. 13. [return to text] |
(2) | Guthke, S. 14. [return to text] |
(3) | Guthke, S. 16. [return to text] |
(4) | Guthke, S. 19. [return to text] |
(5) | Guthke, S. 21. [return to text] |
(6) | Guthke, S. 26. [return to text] |
(7) | Guthke, S. 27. [return to text] |
(8) | Guthke, S. 27. [return to text] |
(9) | Guthke, S. 29. [return to text] |
(10) | Guthke, S. 31. [return to text] |
(11) | Guthke, S. 32. [return to text] |
(12) | Guthke, S. 37. [return to text] |
(13) | Guthke, S. 32. [return to text] |
(14) | G. E. Lessing, Hamburgische Dramaturgie, hrsg. von Klaus Berghahn (Stuttgart), § 21, S. 114. [return to text] |
(15) | Lessing, §29, S. 151. [return to text] |
(16) | J.M.R. Lenz, Anmerkungen übers Theater. In: Lenz, Werke und Briefe in drei Bänden, hrsg. von Sigrid Damm (Insel-Verlag, 1987). Bd. 2, S. 668. [return to text] |
(17) | Lenz, Anmerkungen, S. 668-669. [return to text] |
(18) | Lenz, Anmerkungen, S. 669-670. [return to text] |
(19) | Lenz, Anmerkungen, S. 670. [return to text] |
(20) | J.M.R. Lenz, Die Rezension des neuen Menoza. In: Lenz, Gesammelte Schriften, hrsg. von Franz Blei (Verlag Georg Müller, 1909). Bd. II, S. 333. [return to text] |
(21) | Lenz. Rezension des Neuen Menoza, S. 333. [return to text] |
(22) | Lenz, Rezension des Neuen Menoza, S. 334. [return to text] |
(23) | Lenz, Rezension des Neuen Menoza, S. 334. [return to text] |
(24) | Lenz, Anmerkungen, S. 650. [return to text] |
(25) | Lenz, Anmerkungen, S. 659. [return to text] |
(26) | Lenz, Anmerkungen, S. 660. [return to text] |
(27) | Lenz, Anmerkungen, S. 660. [return to text] |
(28) | Lenz, Rezension des Neuen Menoza, S. 333. [return to text] |
(29) | Lenz, Rezension des Neuen Menoza, S. 334. [return to text] |
(30) | Guthke, S. 29. [return to text] |
(31) | Lenz, Anmerkungen, S. 655-656. [return to text] |
(32) | Lenz, Rezension des Neuen Menoza, S. 334. [return to text] |
Written and © Nancy Thuleen in 1994 for German 940 at the University of Wisconsin-Madison.
If needed, cite using something like the following: Thuleen, Nancy. "Die Tragikomödie des Sturm und Drang: Eine Untersuchung am Beispiel von Lenzens Hofmeister." Website Article. 8 December 1994. <http://www.nthuleen.com/papers/940final.html>.
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